1.AKT:
Die
erste Zeit: nicht „down“, aber auch nicht grade lustig!
Ein Rückblick über die ersten Stunden im Leben meines Sohnes Felix.
Es ist ein Samstag im Oktober, als Felix geboren wird.
Den Namen haben wir lange ausgewählt: Felix- der Glückliche.
Und nun liegt das kleine Bündel Mensch unter mir am Boden.
Bläulich ist er. Kaputt bin ich.
Eine schöne Entbindung – eigentlich. Alles nach Plan: die Herztöne – gut bis zum Schluss.
Nur irgendwas passt nicht in dieser Welt der Wehen und Vorfreude auf das Kind an der Brust.
Es fehlt der alles erlösende Schrei.
Felix ist groß und sieht kräftig aus, 52cm lang, 4220g schwer, aber er ist zu schwach zum Schreien.
Die Hebamme nimmt ihn mit in einen Nebenraum: Sauerstoff!
Ich darf mich wieder hinlegen - Durst!
Endlich schreit Felix und ich atme durch.
Gleich darf ich ihn an der Brust haben, sein kleines Körperchen auf meinem Bauch spüren.
Denkste! Aus dem Gleich werden 16 Stunden.
Felix kommt sofort auf die Neonatologie, ich komme noch mal unters Messer.
Es war also nicht die perfekte Geburt aus dem Bilderbuch.
Ich bin nur froh, dass wir alle am Leben sind.
4 Stunden später:
Ich bekomme ein Bild von Felix . Jetzt sieht er rosig aus.
Ich bin wieder wach und bekomme die Diagnose: Down-Syndrom.
Seltsamerweise zieht es mir nicht die Füße weg – vielleicht, weil ich schon liege, vielleicht weil ich in der Schwangerschaft immer das Gefühl hatte, egal was ist, wir schaukeln es schon, vielleicht weil ich mich mit einer anderen Familie vergleiche und denke, lieber ein lebendes Kind mit Down-Syndrom, als eine Totgeburt.
Die Schwestern auf der Entbindungsstation wissen es auch schon.
Die einen versuchen Trost zu geben, den ich nicht will.
Ich nehme nur alle Schmerzmittel, die man mir anbietet, damit ich so schnell wie möglich zu meinem kleinen Felix kann.
Andere Schwestern gehen mir aus dem Weg – Wie geht man mit einer Frau um, die man nicht kennt, die gerade eben kein Bilderbuchkind zur Welt brachte?
Wie gehe ich mit mir um?
Ich bin erstaunlich gefasst.
Der Wahnsinn ist die Rettung.
Die Frage, warum gerade ich, warum gerade wir, ist schnell beantwortet:
Warum eben nicht gerade wir! Warum sollte es nur andere treffen?
Was wird uns hinter der Tür erwarten, die sich uns soeben eröffnet hat?
Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass mir das Lernen in der Schule etwas Wichtiges gebracht hat: ich weiß, wir sind nicht „schuld“ dran!
Komisch, welche Gedanken einen einholen, wenn man eine Diagnose erfährt.
„Schuld“ – als müsste man sich für sein Kind entschuldigen, dafür, dass man die eine oder andere Untersuchung eben nicht gemacht hat.
„Wussten Sie es wirklich noch nicht in der Schwangerschaft?“
Selbst bei Unbekannten kommt diese Frage spätestens an zweiter Stelle, nachdem sie erfahren, dass Felix das Down-Syndrom hat.
„Down-Syndrom? Kenn ich nicht. – Ach, so, sagen Sie halt gleich Mongoloismus.“
Was soll ich dazu noch sagen?
Ich frage mich, wer ist schuld daran, dass es noch soviel Dummheit oder formulieren wir es höflich, Unaufgeklärtheit gibt.
Nochmal sage ich mir und meinem Mann, der fix und alle aus der Neonatologie kommt, dass wir uns nichts vorzuwerfen haben.
Es gibt bei der Trisomie keine Schuld. Es ist eine Laune der Natur.
Eigentlich befreiend. Wir brauchen uns keine Vorwürfe zu machen.
Das überlassen wir anderen.
„Sie wussten es wirklich nicht schon in der Schwangerschaft?“
Das war die Anfrage der Kinderärztin als ich meinen Sohn zum ersten Mal live und in Farbe sehe.
Nein, ich wusste es nicht. Ich wollte es nicht wissen.
Was wäre denn die Konsequenz des Wissens gewesen?
Abtreibung oder Austragen?
Wir hätten uns für das Austragen entschieden, denn ich habe schon in der Schule und im Studium Wissen über das Down-Syndrom erworben.
Theorie.
Jetzt kommt die Praxis. Ungeplant.
Ich bin froh, dass ich eine schöne Schwangerschaft hatte.
Ich bin gespannt, was mich danach erwartet…
2. AKT:
„UNSER
LEBEN HAT LEBEN“:
War die erste Zeit mit Felix noch von Trauer und Angst geprägt, so packten wir bald unser „Schicksal“ beim Schopf und freuten uns mit Felix und den Aufgaben zu wachsen:
3. Tag:
Samstag, 2. Februar 2008:
(So erlebte Felix den Tag.)
6:00 Uhr:
Gerade habe ich noch so schön geschlafen und jetzt hebt mich Papa, wie jeden Morgen, aus dem Bett. Irgendwie ist um mich herum alles anders. Ach, ja. Wir schlafen ja alle bei Oma.
Jetzt gibt es erst mal ein Fläschchen für mich. Das schmeckt richtig lecker.
6:30 Uhr:
Papa hat gesagt, er ist stolz auf mich. Dabei hatte ich nur Durst und habe meine 100ml ganz schnell getrunken. Aber wahrscheinlich erinnert er sich noch an die Zeit vor Weihnachten, als ich nur 30ml mit Müh und Not getrunken habe und er dann denn Rest sondieren musste.
Ich habe das Sondieren aber nicht vertragen und sehr viel gespuckt.
Zum Glück ist diese Zeit vorbei!
(Das Sondenziehen war mein Weihnachtsgeschenk an die ganze Familie J )
Heute ist irgendwie alles anders. Papa steht gar nicht auf um zu arbeiten. Nein, er nimmt mich mit ins Bett und ich darf noch mit ihm kuscheln. Das ist so schön.
9:00 Uhr:
Heute ist wirklich alles anders!
Mama hat nach mir geschaut und ich habe wach da gelegen.
Normalerweise nimmt sie mich dann immer hoch, wickelt und wiegt mich.
Aber heute gibt es keine Waage. Auch gut. Ich mag sie eh nicht. Man liegt da so wackelig darauf und muss irgendwas zugenommen haben.
9:30 Uhr:
Ich hatte gehofft, dass sie auf die Vojta-Übung auch verzichtet, aber das tut sie nie – außer ich habe Fieber oder werde geimpft. Ich habe also sozusagen die Wahl der Qual.
Ich lasse die Übung über mich ergehen, belohne mich mit einem kräftigen Zug aus der Flasche und schlafe dann ein.
11:00 Uhr:
Ich wache auf, weil alles um mich herum so unruhig wird.
Die Erwachsenen sprechen dauernd von „Taufe“. Und „Felix, das ist heute dein großer Tag!“ Keine Ahnung, was die von mir wollen.
Ich muss mal meine Schwester fragen und fange an zu krähen.
Statt einer Antwort bekomme ich wieder ein Fläschchen.
Na gut. Ich trinke es halt mal leer. Wer weiß, wann es das nächste gibt.
16:00 Uhr:
So, jetzt weiß ich auch, was eine Taufe ist.
Und ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was ich davon halten soll.
Aber meiner Familie hat es wohl gut gefallen.
Also, zuerst haben sie mich gefüttert und mit Vojta geärgert.
Zur Belohnung habe ich Mama angespuckt. Sie hat nur gelacht und meine Oma hat gemeint „Gut, dass ihr noch nicht angezogen seid!“ Das hab ich nicht ganz verstanden, denn schließlich hatte ich etwas an.
Aber das war wohl nicht schön genug, denn dann wurde ich in einen weißen Strampler gesteckt. Und Sarah hat ein Kleid und Lackschühchen angehabt. Die Schuhe hat sie in der Kirche wieder ausgezogen.
Papa, Mama und der Rest der Verwandtschaft haben sich auch in Schale geworfen. Dann ging es zu einem großen Haus, das die Großen „Kirche“ nennen.
Dort haben alle gesungen und meine Tanten und Onkel haben Musik gemacht.
Das war so schön, dass ich fast eingeschlafen wäre.
Aber dann haben sie mir ganz viele Kreuzzeichen auf die Stirn gemacht.
Normalerweise machen das Mama und Papa immer, wenn ich abends ins Bett gehe.
Aber ich war doch gar nicht im Bett. Trotzdem versuchte ich weiterzuschlafen.
Doch dann kam die Aktion mit dem Wasser.
Der Mann, den meine Eltern „Pfarrer“ nennen, kippte mir einfach Wasser über den Kopf.
Da musste ich schreien.
Denn mir war klar, dass wir jetzt beim Babyschwimmen sind und meine Eltern etwas Wesentliches vergessen hatten:
„Wenn man Schwimmen geht, muss man doch eine Schwimmwindel tragen!“ erinnerte ich sie. Doch wieder verstanden sie mich nicht.
Da erkannte ich, dass ich gar nicht schwimmen gehen durfte und beschwerte mich.
Ich schrie weiter.
Erst, als meine Mama ein großes komisches Licht anmachte, das so lustig flackerte und jemand sagte: „Das ist deine Taufkerze, Felix!“, da hörte ich wieder auf.
19:00 Uhr:
Nicht nur ich habe Hunger, sondern auch die Großen.
Ich weiß nämlich jetzt, was ein „großer Tag“ ist.
Da gibt es nämlich große Tische, auf denen viele Kuchen stehen und viel getrunken und gegessen wird und man bekommt viele Geschenke.
Ich habe ganz viele Bälle bekommen. Meine Eltern wollen mir ein Bällebad bauen.
Das klingt gut, das klingt nach Schwimmen. Ich hoffe nur, sie verstehen mich dann, wenn ich wieder eine Schwimmwindel will.
21:00 Uhr:
Draußen ist es ganz dunkel und mein großer Tag neigt sich dem Ende zu.
Ich habe heute einen Trinkrekord aufgestellt: zum ersten Mal 660ml an einem Tag.
Alle freuen sich für mich und ich bin müde, von all der Anstrengung.
Nur meine Eltern überlegen noch, ob sie mich und meine Schwester bei Oma und Opa lassen sollen und mit meiner Patin noch ein wenig weggehen sollen.
Von mir aus könnt ihr hingehen, wohin ihr wollt, Hauptsache, ich bekomme morgens um 6 Uhr mein Fläschchen und notfalls auch mitten in der Nacht!
Gute Nacht! Euer Felix.
3. AKT:
GEDANKEN:
Das Leben in einer Familie stellt einen immer wieder vor neue Herausforderungen, vor allem wenn die Familie aus folgenden Teilen besteht:
2 Erwachsene, 2 Kinder und…
… einem Chromosom J
Das eine Chromosom mehr ist wie ein Schlüssel zu einer Tür: du kannst es annehmen und die Tür zu neuen Begegnungen öffnen. Du kannst den Schlüssel nicht annehmen und die Tür wird für immer verschlossen bleiben. Viele Erfahrungen wirst du so nie machen. Nimm den Schlüssel an! Angst ist dabei ein schlechter Wegbegleiter!