Der ganz normale Wahnsinn

 

Familientagebuch von Fiona, Luisa, Lukas, Silke und Jochen Stapenhorst.

17.12.2007 bis 23.12.2007

 

 

Montag , der 17.12.2007

 

Montag Morgen 6.20 Uhr, es beginnt der ganz normale Wahnsinn einer Familie mit drei kleinen Kindern. Fiona, unsere Jüngste, wird in dieser Woche ein Jahr alt. Sie hat das Down-Syndrom und startet als einzige bereits quietschvergnügt mit einer Stillmahlzeit in den Tag. Das ist für uns nach fast einem Jahr zwar ganz normal am Anfang jedoch mussten wir sehr dafür kämpfen, dass uns beiden das zugetraut wurde. Selbst im stillfreundlichen anthroposophischen Krankenhaus konnte man sich des Vorurteils nicht verwehren, dass Kinder mit Down-Syndrom ganz schlecht an der Brust trinken können und mit der Flasche besser zurecht kämen. Fiona trank oder schlief. Und wenn sie schlief, dann trank sie auch nicht besser aus einer Flasche. Heute ist sie ein Brustkind durch und durch und freundet sich ganz allmählich mit Beikost vom Löffel an. Ihre Mundmotorik ist super entwickelt. Ein Hoch aufs Stillen und unser Durchhaltevermögen.

Die morgendliche Stillmahlzeit gibt mir Zeit wach zu werden, während sich Jochen, Fionas Papa, auf den Weg zur Arbeit macht. Mit Fiona unter dem Arm, sie krabbelt noch nicht, mache ich mich, nach einem Besuch im Bad, auf den Weg die dreijährige Luisa und den sechsjährigen Lukas zu wecken. Unsere heiße Stunde am Morgen beginnt. Mädels anziehen, Lukas anspornen, Frühstück zubereiten, Kindergarten und Schulbrote machen, alle Wünsche berücksichtigen, Medikamente verabreichen, wieder Anspornen, weiter Anziehen und wie immer auf den letzten „Drücker“ ab zur Schule und dann weiter zum Kindergarten – der ganz normale Wahnsinn eben.

Wieder zu Hause steht für Fiona und mich heute ein besonderer Termin auf dem Programm, denn heute kommt erstmalig eine Fachkraft des ambulanten Pflegedienstes zu einem Beratungsgespräch. Dieses fordert die Krankenkasse in sechsmonatigen Abständen, da wir für Fiona Pflegegeld bekommen. Mit einer ordentlichen Verspätung, wie auch nicht anders erwartet, trifft die „Schwester“ vom Pflegedienst ein. Der Besuch dauert keine 15 Minuten und bleibt recht unspektakulär. Zum einen hatte die Pflegekraft sowieso keinerlei Erfahrung mit Babys mit einer Trisomie 21, zum anderen, war sie der Ansicht, dass ich wohl eher sie beraten könne, vor allem nachdem sie erfuhr, dass ich Heil- und Sozialpädagogin bin. Und so bekommen wir unseren Nachweis für die Pflegekasse ruck zuck.

Um 14 Uhr sammle ich Luisa und Lukas mit Fiona im Schlepptau wieder ein und weiter geht es zur Musikschule. Hier singen, tanzen und musizieren wir bei den Musikzwergen. Eigentlich ist Luisa unsere Musikzwergin, doch da unser Papa nur manchmal so früh zu Hause sein kann, gehen wir meist alle vier gemeinsam hin. Fiona war schon während der Schwangerschaft „inkognito“ dabei und freut sich jetzt über eine Rassel in der Hand. Wie doch so oft ist Fiona unser „Hingucker“ . Die großen Geschwister bemühen sich um ihre Aufmerksamkeit und sind ihr in dieser Stunde gerne besonders nah, denn sie bemerken die Aufmerksamkeit, die sie auf sich zieht. Ich glaube sie tun das, weil ihnen diese Aufmerksamkeit gefällt, in der auch sie dann zu stehen glauben. Ich denke auch, dass die Geschwister keinen Unterschied feststellen, zwischen der Aufmerksamkeit, die ganz kleinen Kindern in einer Gruppe von älteren entgegen gebracht wird und jener Aufmerksamkeit, die Fiona zuteil wird. Spätestens wenn ich die scheinbar unausweichliche Frage nach ihrem Alter beantworte, verändert sich die Aufmerksamkeit.

Fiona wiegt sechseinhalb Kilo und wächst allmählich in Größe 74. Betrachtet man dazu ihre motorische Entwicklung vermuten die meisten ein Alter von sechs oder sieben Monaten, zumindest auf den ersten Blick. Diejenigen, die nicht ganz so aufmerksam beobachten würden bei der erwarteten Antwort wahrscheinlich kaum etwas bemerken, bei der unerwarteten Antwort jedoch gerät auch der Letzte ins Stutzen. Es ist mir bereits zur Gewohnheit geworden zu erklären, dass Fiona ein Kind mit Down-Syndrom ist, und zudem ein Herzfehler ihr Wachstum verzögert. Meiner Erfahrung nach, kommt die Offenheit meinerseits und unsere positive Einstellung, wie großartig wir unsere Kleine nämlich finden, bei anderen gut an. Bemitleiden lassen wir uns schlichtweg nicht, denn dafür gibt es keinen Grund und das spüren die Menschen, denen wir begegnen.

Für meine Kinder wünsche ich mir, dass auch sie diese Lebenseinstellung übernehmen, sich „hineinleben“ und stark und gewappnet sind in der Zeit, da sie erkennen, warum uns diese Aufmerksamkeit umgibt.

 

 

Dienstag, der 18.12.2007

 

Lukas startet in den letzten Unterrichtstag diesen Jahres, morgen erlebt er die erste Weihnachtsfeier in der Schule. Luisa bastelt die letzten Sterne im Kindergarten. Fiona und ich sind in Begleitung meines Vaters unterwegs zu Fionas Kinderärztin zur Vorsorgeuntersuchung, der U6. Hierzu fahren wir in das 20 Kilometer entfernte Witten, denn mir war es von Anfang an wichtig, dass die Kinderärztin Erfahrung mit Kindern mit Down-Syndrom und Herzfehler hat. So steht uns von Fionas dreizehntem Lebenstag an unsere Kinderärztin zu Seite. Sie hat uns von Beginn an bestärkt auf unser Gefühl und unsere Beobachtungen zu vertrauen. Sie war stets begeistert von Fiona. Sie hat immer das Positive in den Vordergrund gestellt und Grenzen zu massiveren Maßnahmen abgesteckt. Sie hat uns die Frühförderung empfohlen und später meinen Wunsch nach Physiotherapie und Logopädie gewehrt. Der angedachten Schlüsselfunktion der Kinderärzte für die Förderung behinderter Kinder ist sie absolut zufriedenstellend gerecht geworden. Ich nehme den Weg gerne in Kauf, denn ihr Urteil stelle ich nicht in Frage – dies kann ich von dem ortsansässigen Arzt, bei dem früher auch unsere anderen beiden Mäuse waren, nicht behaupten. Auf meine Frage, für wie kompetent er sich bezüglich der Bedürfnisse von Kindern mit Down-Syndrom und Herzfehlern hält, bekam ich die Antwort, es käme darauf an was ich ihm zutraue. Diese Aussage hatte einen Arztwechsel zur Folge.

Als Mutter von drei Kindern bin ich nicht gleich bei jeder Kleinigkeit beim Arzt und sicher auch beim dritten Kind entspannter als beim ersten, dennoch ist mit Fiona die Liste an Facharztbesuchen deutlich länger geworden.

Bei unserem heutigen Besuch regnet es Komplimente für Fiona und für mich. Das Herzchen macht sich, nach dem letzten Bericht des Kardiologen, auch prima. Allgemeinzustand, Motorik – unsere Ärztin ist erfreut. Wir bekommen noch eine spezielle Wachstumskurve für Kinder mit Down-Syndrom in unser U-Heft geheftet. Und schwupp, ist Fiona auch nicht mehr so weit vom Durchschnitt entfernt.

Wie ich aus unserem Freundeskreis weiß, ist eine solch positive Untersuchung bei weitem nicht selbstverständlich. Das Verletzendste was ich in diesem Zusammenhang gehört habe ist die Aussage eines Arztes gegenüber einer liebenden und fördernden Mutter (von Beruf Erzieherin): „Aber sie wissen schon, dass ihr Kind von der Entwicklung her zurück ist?“

Meiner Meinung nach, ist die positive Grundeinstellung das erste, was es zu unterstützen gilt. Zu bewältigen gibt es genug, lässt uns die Kraft für neue Aufgaben doch aus dem schöpfen, was überstanden oder von vornherein gut ist!

Während der U6 werden wir noch darauf hingewiesen, dass neben den Päd.Audiologiekontrollen im kommenden Jahr augenärztliche Untersuchungen anstehen. Ich hoffe, dass wenn wir in all den verschiedenen Fachdisziplinen erst einmal eingetaucht sind und uns in immer wieder neuer Fachsprache zurechtfinden, wiederkehrende Untersuchungen zur Routine werden und nicht mehr so belasten.

Mit den besten Geburtstagswünschen für den kommenden Tag machen wir uns auf den Weg heimwärts.

Am Nachmittag sind Fiona und ich noch mit unserer Heilpädagogin aus der Frühförderungsstelle der Lebenshilfe verabredet. In der Regel sehen wir uns einmal wöchentlich für 1½ bis 2 Stunden bei uns zu Hause, seit Fiona acht Wochen alt ist. Die Frühförderung hätte an Fionas Geburtstag stattgefunden. Dieses geht aus organisatorischen Gründen der Lebenshilfe in dieser Vorweihnachtswoche nicht. Dennoch ist sowohl der Heilpädagogin als auch mir so sehr an einem Treffen vor Fionas Geburtstag und vor Weihnachten gelegen, so dass sie ein Treffen an ihrem Arbeitstag anhängt.

Für mich ist unsere Heilpädagogin eine wichtige Bezugsperson. Ich schätze ihren fachlichen und menschlichen Rat und obgleich wir an der gleichen Fachhochschule Heilpädagogik studiert haben, gibt es unendlich viel voneinander zu lernen. Die Empathie, die eine Beziehung zwischen der zu betreuenden Familie und der Heilpädagogin prägen sollte, hat mit ihr Gestalt angenommen.

Ich wünsche diesen Beistand über den Zeitpunkt des Eintritts von Fiona in den Kindergarten hinaus, an meiner Seite haben zu dürfen.

In ihr finde ich den so dringend nötigen Wegweiser im „Wald“ der Fördermöglichkeiten.

Bei unserem heutigen Treffen kann ich von dem Arztbesuch berichten und wir tauschen kleine Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke und –wünsche aus. Ich freue mich auf ein Wiedersehen im neuen Jahr und ich bin mir sicher Fiona auch.

Am Abend werden noch, mit Jochens Hilfe, die letzten Geburtstagsvorbereitungen getroffen: Geschenke verpackt, Kuchen gebacken, Tisch gedeckt, Ballons und Wimpel aufgehängt, ein Foto geschossen – der Geburtstag kann kommen!

 

Mittwoch, den 19.12.2007

Kaum zu glauben und doch wahr, Fiona ist heut schon ein Jahr.

Und wie auch an den Geburtstagen der beiden „Großen“ denke ich als Mutter an den Tag der Geburt. Seit ich Mutter bin weiß ich, der Geburtstag ist auch der Tag der Mutter – in glücklichen Fällen, wie den unseren, auch der Tag des Vaters. Was haben wir alles erlebt, was alles durchstanden?

In der 29ten Schwangerschaftswoche wurde bei unserem Kind durch Zufall bei einer Routine-Ultraschalluntersuchung ein Herzfehler festgestellt. „Nein, dieser Fehler wächst sich nicht aus. Da müssen sie sich auf mehrere Operationen mit langen Krankenhausaufenthalten einstellen. Aber später hat dann ihr Kind eine Chance auf ein halbwegs normales Leben.“ Dies waren die unsensiblen und niederschmetternden Worte des Arztes, den ich weder vor dieser Untersuchung noch danach jemals wieder aufsuchte.

Dringend wurde mir eine Amniozenthese angeraten – man denke an eine Trisomie. Meine Bedenken hinsichtlich der Gefahr eines Blasensprungs wurden abgetan und gerne schon mal ein Termin vereinbart. Medizinisch gesehen hätte die Feststellung der Trisomie 21 zu diesem Zeitpunkt keine Konsequenz gehabt. Weder hätte, aus rechtlicher Sicht, ein Schwangerschaftsabbruch zur Wahl gestanden noch hätte man, aus medizinischer Sicht, irgend eine andere Maßnahme ergriffen, als bei einem Kind ohne Trisomie 21.

„Aber sie müssen doch wissen, was auf sie zukommt!“

Aus Neugier das Leben unseres Kindes zu riskieren – Blasensprung in der 29ten Woche? – Herzfehler? Nebenbei erfuhren wir, dass wir ein Mädchen erwarten durften.

Nein, die verbleibenden Wochen konnten wir auch mit dieser Ungewissheit leben und uns für „alle Fälle“ vorbereiten.

Ich stand wieder zwischen den Regalen der Bibliothek der Fachhochschule und suchte diesmal Elternratgeber. Jochen recherchierte im Internet nach Bezugsquellen.

Lukas ist im Geburtshaus, Luisa zu Hause zur Welt gekommen. Für Fionas Geburt galt es nun ein geeignetes Krankenhaus zu finden, um für alle Fälle gerüstet zu sein und ihr den bestmöglichen Start zu geben.

Als sie zur Welt kommt beantwortet sie mit dem ersten Blick von Angesicht zu Angesicht unsere Frage, deren Antwort ich tief in meinem Inneren bereits kannte.

 

Willkommenskarte:

F  lügel meinten wir schlagen zu hören, denn du bist ein Geschenk des Himmels.

I   mmerzu wird unsere Liebe dich begleiten.

O  hnegleichen ist der Weg, den wir mit dir beschreiten

N iemals wollten wir dich wieder hergeben.

A  nderssein macht sie möglich, die wunderbare Vielfalt menschlichen Seins.

 

Fiona Stapenhorst                 19.12.2006           23:25h           3210 g            48 cm

 

 

Alle guten Dinge sind drei!

Dachte sich unsere Fiona und kam nicht nur als drittes Kind in unsere Mitte, sondern brachte ihr 21. Chromosom auch gleich dreimal mit!

Bei ihrer Geburt im Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke, bewies sie uns lautstark wie prima ihr Löwen­herzchen trotz eines Defektes schlagen kann und meisterte alles ohne Komplikationen. Nach weiteren acht Tagen auf der Intensivstation waren davon dann auch die Ärzte überzeugt und Mutter und Kind durften in ihr trautes Heim.

Voll Zuversicht steuern wir auf die Herzoperation im Sommer zu und freuen uns an Fionas Fortschritten.

Wir bedanken uns für die zahlreichen Glückwünsche, die Mut zusprechenden Worte, die Angebote der Hilfe und die liebevoll ausgesuchten Geschenke!

 

Fiona, Luisa, Lukas, Silke und Jochen

 

 

Damals war noch nicht klar, ob Fiona ihren ersten Geburtstag erleben würde. Meine Angst war unermesslich groß sie zu verlieren. Ich wünschte mir so sehr mein Leben mit ihr teilen zu dürfen. Unser Leben hat sich stark durch sie und mit ihr verändert. Wir sind in neue Welten eingetaucht, wir haben neue Freunde gefunden. Was würde mit ihr auch alles wieder verloren gehen? Fionas Taufe feierten wir groß mit vielen Menschen.

Fiona meisterte die Herz OP im Alter von sechs Monaten mit Bravour und obwohl sie am offenen Herzen operiert wurde, trank sie nach drei Tagen wieder an der Brust und wir konnten nach sensationellen acht Tagen zurück ins traute Heim.

 

Seitdem ist die Zeit geflogen und wir blicken mit Zutrauen in die Zukunft. Ob Fiona noch einmal operiert werden muss, wird sich erst in den nächsten Jahren zeigen. Zur Zeit reichen Medikamente aus, um den Restfehler auszugleichen.

 

Nun, heute dürfen wir Fionas Geburtstag feiern und da sie außergewöhnlicher Weise noch schläft können Lukas, Luisa und ich (Papa musste bereits zur Arbeit) sie mit einem Geburtstagsständchen wecken. Nach der ersten Strophe von „Heute kann es regnen...“ blinzelt uns eine verschlafene Fiona entgegen, die uns ganz ihrem Naturell entsprechend, sofort ein leuchtendes Strahlen schenkt. Richtig feiern und Geschenke auspacken können wir erst später, denn unser „Großer“ hat ja heute noch seine Schulweihnachtsfeier.

Zum Nachmittagscafé sind die Geburtstagsgäste eingeladen. Neben Opa, Oma und den Taufpaten, sowie einer Freundin mit Kindern wollen noch drei Familien kommen, die ebenfalls ein Kind mit Down-Syndrom haben. Allein bei uns in Herne sind im Dezember 2006 drei Kinder mit einer Trisomie 21 geboren. Aus dem Nachbarort Recklinghausen kommt ein weiteres Kind hinzu. Wir kennen uns alle. Heute eingeladen sind die kleine Hanna, die vor fünf Tagen Geburtstag hatte, Henrik, der am 2. Weihnachtstag geboren ist und Rike, sie wird im nächsten März zwei Jahre alt. Leider müssen kurzfristig die beiden Mädchen absagen, wegen einer akuten Infektion. Das ist ein häufiges Problem – wir können noch so viele Treffen planen, ob es dann auch dazu kommt wissen wir nie.

Es wäre für die Großeltern und Paten schön gewesen auch die anderen Kindern zu erleben, außerdem haben die meisten noch ältere Geschwister und so freuen sich Lukas und Luisa stets auf weitere Spielkameraden.

Dennoch verbringen wir einen wundervollen Nachmittag und die Kinder haben Spaß – mal auf, mal unter dem Schwungtuch, eines der Geschenke.

Der Tag wird etwas länger als geplant. Doch schließlich liegen alle zufrieden in ihren Betten. Und ich – ich fühle mich beschenkt und danke für diesen Tag.

 

 

Donnerstag, der 20.12.2007

 

Donnerstags vormittags gehen Fiona und ich in eine Wiegestube, ein Spieltreff in einer gemischten Altersgruppe.

Mit Lukas und Luisa bin ich stets gerne in eine PeKiP-Gruppe gegangen. Dort sind die Kinder immer in nahezu altersgleichen Gruppen zusammen, Spiele und Material sind auf die aktuellen Entwicklungsphasen abgestimmt. In einer altersgleichen Gruppe wäre mir jedoch der Unterschied von Fionas Entwicklung zu der, der anderen jedes Mal vor Augen geführt worden. Das wollte ich nicht. Fiona durfte immer so sein wie sie eben ist. Sie entwickelt sich in ihrem Tempo und das ist völlig o.k.. Da sie wahrscheinlich das letzte Kind in unserer Familie sein wird, finde ich es schön, ziemlich lange noch einmal so ein kleines Kind zu haben. Diese Zeit, die sonst ja schnell vergeht, darf ich noch mal ganz intensiv erleben. Durch meine Hebamme lernte ich eine Frau kennen, die drei Monate nach uns ein Kind mit Down-Syndrom bekommen hat. Sie leitet in unserer Stadt diese altersgemischte Wiegestube mit anthroposophischem Charakter. Ich konnte zwei Mütter mit Kindern mit Down-Syndrom dazu bewegen mit uns zusammen diesen Kurs zu besuchen. Und so sind wir hier zu viert. Damit stellen wir über ein drittel der Teilnehmerzahl. Das ist unheimlich entlastend, denn so wird es möglich mehr Normalität zu erfahren. Besonderheiten unserer Kinder stehen nicht mehr so im Fokus. Wir haben eine echte „Vergleichsgruppe“ und natürlich das Wichtigste, wir haben regelmäßig Kontakt. Selbst wenn wir es mal über längere Zeit nicht schaffen uns zu treffen, in dieser Gruppe sehen wir uns dann doch.

Heute findet die Wiegestube nicht statt – klar, so kurz vor Weihnachten. Dafür hat Fiona heute ihre wöchentliche Physiotherapie.

Luisa ist im Kindergarten und Lukas begleitet uns in den Nachbarort. Lukas ist wegen einer Wirbelsäulenfehlstellung beim gleichen Physiotherapeuten und findet es nicht ungewöhnlich, dass Fiona auch zur Physiotherapie geht. Für ihn ist es einfach eine Turnstunde und er spielt mit den Materialien, die er dort vorfindet. Den Hauptteil der Übungen machen wir sowieso im Alltag und sie fallen nicht weiter als Besonderheit auf.

 

 

Freitag, der 21.12.2007

 

Heute feiert Luisa im Kindergarten Weihnachten. Für sie ist es das erste Mal und sie ist aufgeregt. Strahlend kommt sie mittags mit einem kleinen Geschenk nach Hause und erzählt der kleinen Fiona vom Christkind. Ihrer Vorstellung nach hat sie das Christkind ja schon im Himmel getroffen, bei den Engeln, dort wo wir alle waren, bevor wir uns eine Familie auf der Erde ausgesucht haben, in die wir hineingeboren werden wollen, und wohin wir wieder gehen, wenn wir sterben.

Die gleiche Vorstellung ist auch Lukas sehr wichtig, denn es macht ihn stolz als großer Bruder von seinen Schwestern ausgesucht worden zu sein.

Lukas hat eine nur wage Vorstellung davon was anders ist, wenn ein Mensch das Down-Syndrom hat. Er kann Menschen mit Down-Syndrom auf Bildern erkennen, ist jedoch erstaunt zu hören, welches Kind aus unserem Freundeskreis auch davon betroffen ist. Dennoch war es ihm einmal wichtig zu sagen, wie lieb er seine Fiona hat, und dass es ihm nichts ausmacht, dass sie das Down-Syndrom hat. Entsprechende Literatur (z.B. Regenbogenkind) hat ihm dabei geholfen sich mit diesem Thema zu beschäftigen.

Die Geschwisterbeziehung ist in der Regel die längste, die wir in unserem Leben haben – ich wünsche mir, dass es in unserer Familie eine warme, intensive, tragende und schöne Beziehung wird.

 

Samstag, der 22.12.2007

Die Spannung steigt – Weihnachten naht.

Vor einem Jahr waren die Aussichten weitaus schlechter. Ich saß im Krankenhaus fest und in den Kindern kam erstmals die Frage auf, ob ich denn nun Weihnachten gar nicht mit ihnen feiern könne. Diese Vorstellung war grauenhaft. Letzten Endes konnte ich am Heilig Abend und am 1.Weihnachtsfeiertag das Krankenhaus für ein paar Stunden verlassen, allerdings ohne Fiona. Innerlich ein Zustand der Zerrissenheit.

Noch nie ist mir bewusster gewesen, worauf es Weihnachten ankommt. Wie intensiv jeder Augenblick erlebt wurde, wenn auch mit dem Wermutstropfen nicht komplett zu sein und einer nicht ganz Zweieinhalbjährigen, die bei der Verabschiedung im Krankenhaus fragt: „ Du hause tommst? Fiona auch hause tommt?“

In diesem Jahr wird alles anders sein – wir dürfen alle zusammen sein.

 

An diesem Nachmittag beginnt für uns nahezu Weihnachten, denn wir sind zu einem Weihnachtsspiel ganz besonderer Art eingeladen. Ein erlesener Kreis an Menschen, darunter viele Kinder, trifft sich im Haus einer Freundin. Ein großer Raum mit Hilfe von Samttüchern an Decke, Wände, Boden in Dunkelheit gehüllt, lässt uns auf ein erleuchtetes Puppenspiel in mehreren Bildern konzentrieren. Die Weihnachtsgeschichte wird dabei vorgetragen, eine Gruppe von Musikern begleitet zwischendurch unseren Gesang. Zum Abschluss dürfen sich die Kinder eine Klangkugel als Geschenk aussuchen, deren Läuten sie durch das kommende Jahr begleiten soll. Fiona hat andächtig auf meinem Schoss gestaunt und wird von ihren Geschwistern auch mit einer Kugel bedacht.

Nach einigen Liedern öffnet sich ein Vorhang zum Saal nebenan – ausschließlich erleuchtet von Kerzenschein und an gedeckten Tischen dürfen wir Bratäpfel mit Vanillesoße genießen. Kein Kind wird hier als störend empfunden und Fiona ist einfach eine von den Kleinsten und ein Anlass zur Freude.

 

Als Jochen und ich am Abend dem Christkind ein wenig Arbeit abnehmen und schon mal einige Geschenke einpacken - was ja durchaus etwas mühselig werden kann - denke ich daran, was ich im letzten Jahr darum gegeben hätte dieses tun zu können!

 

 

Sonntag, der 23.12.2007

 

Von draußen vom Walde komm ich her, ich muss euch sagen es weihnachtet sehr...

Am Tag vor dem Heiligen Abend bemerken die Kinder, dass das Christkind den Wunschzettel abgeholt hat. Gemeinsam schmücken wir den Tannenbaum. Papa ist zuständig für die Lichterketten, Lukas und Luisa schmücken unten, ich schmücke oben oder werde dirigiert wo was zu hängen kommen soll – was deutlich besser ist als zwanzig Kilo Kind hochzustemmen und Gefahr zu laufen in den Weihnachtsbaum zu rasseln. Und Fionas Part besteht darin zu staunen und Christbaumschmuck zu verstecken. Endlich ist es geschafft – aber die Lichter bleiben aus, bis zur Bescherung am nächsten Abend. In der Krippenlandschaft fehlt nur noch das Christkind. So weit sind alle Vorbereitungen getroffen und es bleibt Zeit für ein paar besinnliche Gedanken.

 

Ich bin 32 Jahr alt, mein Mann 46. Während meines Studiums der Heil- und Sozialpädagogik haben wir Lukas bekommen, zu den Diplomarbeiten war Luisa unterwegs. In der Fördergruppe der WfB habe ich fast ein Jahr meine Praktikumzeiten verbracht und fünf Jahre während des Studiums als Honorarkraft im Wohnheim für Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung der Lebenshilfe gearbeitet. Als Fiona sich ankündigte fragte ich mich schon, ob ich jemals als Heil- oder Sozialpädagogin über die bisherigen „familienfreundlichen“ Projekte hinaus arbeiten würde. Wo waren in den letzten Jahren die Menschen mit Behinderung geblieben. Sie hatten mir so viel bedeutet, hatten mir eine Welt eröffnet, mir den Weg gezeigt.

Und dann kommt – Fiona.

Sie ist mein Polarstern. Durch sie darf ich Behinderung (das Wort gefällt mir eigentlich nicht) auf eine neue, sehr tiefgehende Art und Weise erfahren. Es ist, als wird mir mit ihr klar warum mein bisheriger Lebensweg so ausgesehen hat und wo es hingehen wird.

Wir haben mit Freunden eine Selbsthilfegruppe gegründet. Mit einer betroffenen Mutter, die auch Sozialpädagogin ist habe ich ein Beratungsangebot erstellt für Menschen, die ein Kind mit Down-Syndrom erwarten oder gerade bekommen haben. Für das kommende Jahr möchte ich mich um einen Lehrauftrag an meiner Fachhochschule bemühen zum Thema: Diagnose Down-Syndrom - was nun.

Ich sehe aus völlig neuer Sicht was in unserer Gesellschaft in den letzten 50/60 Jahren bewegt wurde und ich blicke auf das, was es noch zu erreichen gibt. Mit Fiona werde ich wachsen und sie wird mir immer neuen Anstoß geben mich zu bewegen, um etwas zu bewegen. In einigen Jahren sehe ich mein Engagement wahrscheinlich in einem Vorstand z.B. der Lebenshilfe.

 

Ich freue mich auf ein spannendes und aufregendes bewegtes Leben mit meinem Partner und unseren Kindern. Auch ich fühle mich von Fiona ausgesucht und ich kann aus tiefstem Herzen sagen: „Es ist mir eine Ehre!“